Ladies Drive No. 52: Über den Umgang mit Unsicherheit
VERTRAGLICHE R EGELUNGEN – WORÜBER MAN SICH EINIGEN DARF
In den meisten Ländern der Welt herrscht weitgehende Vertragsfreiheit. Das bedeutet, dass abgesehen von wenigen essenziellen Regeln die geschäftsfähigen und freiwilligen Parteien untereinander ihre privaten Angelegenheiten nach ihrem Gusto gestalten können, soweit diese nicht übergeordneten staatlichen oder sozialpolitischen Interessen widersprechen (auch Ordre public genannt). Diese Definition beinhaltet schon alle Beschränkungen dieser Freiheit. Sie ist zum Beispiel eingeschränkt bei nicht geschäftsfähigen Personen. Wann jemand geschäftsfähig ist, richtet sich nach dem Landesrecht. Eine zurechnungsfähige Person über 18 Jahre ist üblicherweise geschäftsfähig. Eine Zustimmung ist freiwillig, wenn keine Faktoren präsent sind, die das Leben und die Gesundheit einer Person oder deren Liebsten beeinträchtigen. Klassisches Beispiel ist die Pistole am Kopf. Kein Beispiel ist eine riesige Firma, die einer kleinen Firma ihre Bedingungen aufdrückt. Es muss sich auch um eine private Angelegenheit handeln. Zwei Parteien untereinander können zum Beispiel nicht die strafrechtlichen Gesetze ganz ausser Kraft setzen. Letztlich existiert noch das Primat des Staates. Das klassische Beispiel ist hier die Rüstungsindustrie. Die Einschränkungen sind zwar schnell zusammengefasst, der Teufel liegt aber im Detail. Nehmen wir die Freiwilligkeit. Hier werden in gewissen Bereichen, insbesondere wenn ein Vertrauensverhältnis oder ein Über-/Unterordnungsverhältnis gegeben ist, Grenzen gesetzt. Das wirkt sich vielmals im Arbeitsrecht aus. Gleiches gilt auch für die Ordre public. Diese kann in jedem Land unterschiedlich sein und teilweise sehr weit ins private Verhältnis zwischen den Vertragsparteien eingreifen.
VERTRAGLICHE REGELUNGEN – DENKANSÄTZE
Bevor wir jedoch zum Thema kommen, ob wir uns über etwas einigen dürfen, ist es sinnvoll, im eigenen (und fremden) Erfahrungsschatz zu stöbern. Was ist Ihnen (oder anderen) bei Verträgen schon mal passiert, und wie hätten Sie damals reagieren wollen? Machen Sie sich eine Liste dieser Situationen und versuchen Sie, diese in Kategorien zu ordnen – entweder nach Ereignis oder nach der gewünschten Lösung. Dann haben Sie schon mal eine Idee, wogegen Sie sich – und gegebenenfalls wie – absichern möchten. Das hilft Ihnen dann, eine allgemeine Formel zu finden. Als Nächstes überlegen Sie sich, welche Art von Vertrag Sie haben. Ist es ein Vertrag über eine termingebundene Veranstaltung? Ist es ein Liefervertrag, bei dem vor allem die Qualität wichtig ist? Ist es ein Arbeitsvertrag, bei dem Ihnen eine dauerhaft gute und zuverlässige Leistung wichtig ist? Dies schränkt dann Ihre Überlegungen wieder ein bisschen ein, und Sie können fokussierter werden. Dann gibt es zwei Möglichkeiten, unvorhergesehene Situationen zu adressieren: Entweder Sie zählen alles auf und wie Sie es regeln möchten, oder Sie fügen eine allgemeine Klausel ein, die Situationen dieser Art und die Folgen umschreibt. Beides hat Vor- und Nachteile. Bei der ersten Variante wird Ihr Vertrag wahrscheinlich sehr lang und kompliziert und lässt wenig Raum für die eigentlich wichtigen Regelungen, wobei gleichzeitig immer die eine oder andere Situation durch die Maschen fällt. Sie können das etwas abfedern, indem Sie sich auf die Bedingungen des Vertrages beschränken, bei deren Störung wirklich massive Konsequenzen auftreten. Bei der zweiten Variante laufen Sie Gefahr, dass die unvorhergesehene Situation doch wieder vor einem Gericht interpretiert werden muss, weil nicht genug Details vorhanden sind. Beide Varianten sind besser, als gar keine Klausel zu veränderten und unvorhergesehenen Umständen einzufügen. Eine Kombination der beiden Varianten kann ebenfalls nützlich sein. Fügen Sie keine entsprechende Klausel ein, sind Sie auf das Gesetz und die Rechtsprechung angewiesen, was für erhebliche Unsicherheit und Bindung von Ressourcen sorgt und meist mit einem Gewinner und einem Verlierer (manchmal aber auch mit zwei Verlierern) endet. Haben Sie eine Klausel, haben alle Parteien immerhin noch die Möglichkeit, auf Basis des Vereinbarten eine an die Situation angepasste sachgerechte Lösung zu finden. Denn hier menschelt es sehr.
UNVORHERGESEHENES UND DAS MENSCHLICHE
Grundsätzlich ist das Unvorhersehbare überraschend, da sage ich Ihnen nichts Neues. Eine vertragliche Regelung für genau die (eben unvorhersehbare Situation) zu haben ist wie ein Sechser im Lotto (oder in meinem Fall in der Geografieprüfung in der Matura). Jeder Mensch reagiert auf Situationen, die nicht nach Plan laufen, anders. Lediglich gar keine Reaktion ist selten. In solchen Fällen suchen wir nach Ankern. Manche suchen nach jemandem, der die Schuld trägt, andere suchen nach Lösungen, wieder andere stecken den Kopf in den Sand oder werden aggressiv. Eine vertragliche Regelung, welche die Tür für verhandelte Änderungen öffnet und auf eine Problemlösung gerichtet ist, ohne dass nach Schuld gesucht werden muss, hält den Dialog zwischen den Parteien offen. Solange noch ein Dialog besteht, ist eine Lösung in Sicht, bei der keine Partei das Gesicht verlieren oder die vollständige Last des unvorhergesehenen Ereignisses allein tragen muss. Dadurch bleiben vertragliche Beziehungen auf längere Sicht gesünder, und es werden grössere Kulanz und Toleranz geschaffen.
FAZIT
In Zeiten von Covid-19, in denen viele Firmen und Wirtschaftszweige betroffen sind, sind gegenseitige Toleranz und Kulanz wichtig, ja essenziell, um eine insgesamt gesunde Wirtschaft und ein stabiles Miteinander zu erhalten. Das Halten und Vertiefen von geschäftlichen Beziehungen erscheint mir besonders wichtig, da jetzt der direkte menschliche Austausch erschwert ist und z. B. das Finden eines neuen Lieferanten oder eines neuen Angestellten oder neuer Kunden besonders schwierig ist. Auch wenn Ihre Verträge jetzt schon geschrieben sind, gibt es noch Möglichkeiten, Änderungen vorzunehmen. Zu bedenken ist auch, dass Covid-19 zwar unvorhergesehen war, aber wohl eher nicht das einzige unvorhergesehene Ereignis der Welt ist. Denken Sie an den Platzregen, wenn vor 5 Minuten noch kein Wölkchen am Himmel zu sehen war und der Wetterbericht Sonne und 35 °C vorhergesagt hatte. So was passiert. Bereiten Sie sich darauf vor.